Radfahren und Migration

Radfahrende sind so divers wie die Gesellschaft, in der wir leben. Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland, in dem Menschen aus ganz unterschiedlichen Herkunftsregionen leben. Im Jahr 2022 lag laut Statistischem Bundesamt der Anteil derjenigen, die einen familiären Migrationshintergrund haben, bei knapp 29 %. Allerdings werden Angaben zum Migrationshintergrund in Mobilitätsbefragungen selten erhoben. Entsprechend ist auch in der Mobilitätsforschung die Frage, wie und ob sich diese Entwicklung auch auf die Mobilität, den Verkehr und gesellschaftliche Teilhabe auswirkt, bisher wenig erforscht. In den großen, bundesweiten Studien zur Mobilität gab es bisher keine oder nur wenige Informationen z.B. zur Herkunft oder Staatsangehörigkeit. In der Studie Mobilität in Deutschland (MiD) wurde 2017 erstmals der Migrationshintergrund als einzelne Frage integriert. Insgesamt fehlen jedoch weitergehende Informationen, die in internationalen Studien zum Mobilitätsverhalten von Migranten oder ethnischen Minderheiten als weitere Faktoren berücksichtigt werden, etwa ethnische Zugehörigkeit, Länge der Aufenthaltsdauer, Haushaltszusammensetzung nach Herkunft. Diese mangelhafte Datenlage erschwert für Deutschland eine differenzierte Betrachtung

Fahrradverfügbarkeit von Menschen mit Migrationshintergrund

Menschen ohne Migrationshintergrund verfügen häufiger über ein funktionstüchtiges, normales Fahrrad. 79 % aller Männer steht ein Fahrrad zur Verfügung, 74 % aller Frauen (insgesamt 76 %). Bei Männern mit Migrationshintergrund liegt die Verfügbarkeit bei 71 %, bei Frauen mit Migrationshintergrund bei 65 % (insgesamt 68 %).  Bei Frauen ist die Verfügbarkeit in beiden Gruppen jeweils also um etwa 5 % geringer als die der Männer. Insgesamt haben Frauen mit Migrationshintergrund die geringste
Verfügbarkeit, hier kann mehr als ein Drittel nicht über ein Fahrrad verfügen.

Fahrradverfügbarkeit nach Geschlecht und Migrationshintergrund bei Personen ab 14 Jahren (Quelle: MiD/MiT 2017)


Ein Grund für die geringe Verfügbarkeit könnte darin liegen, dass einige der Befragten das Fahrradfahren nicht gelernt haben bzw. sich ihren Fähigkeiten nicht sicher sind
und deswegen kein Fahrrad haben. Bei einer Befragung des ILS-Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Offenbach am Main stellte sich heraus, dass etwa 12 % der Frauen und ungefähr 5 % der Männer mit Migrationshintergrund angegeben hatten, nicht Fahrrad fahren zu können (im Vergleich zu 1 % der Männer und etwa 5 % der Frauen ohne Migrationshintergrund).

Insbesondere können viele Frauen mit Migrationshintergrund aus den mittleren und älteren Altersgruppen nicht Fahrrad fahren, der Anteil steigt hier auf etwa 18% an. Ein
weiterer Grund für die geringere Verfügbarkeit hängt mit der Höhe des Haushaltseinkommens zusammen. Wird das Haushaltseinkommen in Bezug zur Anzahl der Haushaltsmitglieder gesetzt, kann ein sogenannter sozioökonomischer Status gebildet werden. Tendenziell verfügen die Befragten der MID 2017 in beiden Gruppen zwar über ein ähnliches Einkommen, Haushalte mit Personen ohne Migrationshintergrund sind jedoch kleiner, so dass deren sozioökonomischer Status höher ausfällt. Beispielsweise ist der Anteil mit einem (sehr) niedrigen sozioökonomischen Status bei denjenigen mit Migrationshintergrund deutlich größer (33 % zu 21 %). In beiden Gruppen zeigt sich aber der gleiche Trend: Menschen, die in Haushalten mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status leben, haben eine geringere Fahrradverfügbarkeit.

Einschätzungen zum Fahrradfahren

Schaut man sich die Beliebtheit des Fahrradfahrens und die Bewertung der Verkehrssituation vor Ort an, zeichnet sich ein positives Bild. Bei der Aussage „Ich fahre im Alltag
gerne Fahrrad“ stimmt die Mehrheit der MiD-Befragten (voll und ganz) zu. Der Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund fällt mit 55 % zu 60 % etwas geringer aus. Interessanterweise bewertet parallel ein etwas höherer Anteil die Verkehrssituation mit dem Fahrrad vor Ort mit den Schulnoten 1 oder 2 als (sehr) gut (61 % zu 54 %). Auch bei diesen beiden Einschätzungen liegen die Werte der Frauen unter denen der Männer in der jeweiligen Gruppe. Frauen ohne Migrationshintergrund zeigen die geringsten Werte bei den guten Schulnoten (53 %).

Fahrradnutzung im Alltag

Eine Frage der MiD bezieht sich auf die Häufigkeit, mit der jemand in der Regel die verschiedenen Verkehrsmittel nutzt. Bei der Fahrradnutzung unterscheiden sich die beiden Gruppen darin, dass Menschen ohne Migrationshintergrund das Fahrrad häufiger nutzen und ein deutlich größerer Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund das Fahrrad (fast) nie nutzen (41 % zu 32 %).

Bezieht man das Geschlecht mit ein dann zeigt sich, dass Männer ohne Migrationshintergrund am häufigsten das Fahrrad nutzt und in den meisten Gruppen etwa die Hälfte der Befragten mindestens monatlich aufs Rad steigt. Frauen mit Migrationshintergrund fahren allerdings am seltensten Rad, hier sind aber immerhin noch 40 % monatlich mit dem Rad unterwegs, parallel ist hier jedoch auch der Anteil derjenigen besonders hoch, die das Rad (fast) nie nutzen (46 %).


In der jüngeren Altersgruppe der 14 bis 17-Jährigen, in der das Fahrrad ein wichtiges Verkehrsmittel zur selbstbestimmten, autonomen Mobilität ist, ist der Unterschied generell besonders deutlich. Hier nutzen 57 % der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund das Fahrrad mindestens wöchentlich im Vergleich zu 44 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Der Anteil derjenigen, die das Fahrrad häufig nutzen sinkt in der Altersgruppe der 18 bis 29-Jährigen, aufgrund der Möglichkeit einen Führerschein zu erwerben und Auto fahren zu können (wöchentliche Fahrradnutzung ohne Migrationshintergrund 36 %, mit Migrationshintergrund 30 %). In den älteren Gruppen steigt jeweils die häufige Nutzung leicht an, um dann im höheren Alter ab 75 Jahre wieder abzusinken.

Für Offenbach am Main zeigte die ILS-Studie einige Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Generation mit Migrationshintergrund. Vor allem Menschen der ersten Generation (im Ausland geboren und nach Deutschland eingewandert) haben eine geringere Haushaltsausstattung mit Fahrrädern und seltener die Fähigkeit erworben, Fahrrad zu fahren. Hier ist der Anteil derjenigen, die weder Fahrrad fahren können, noch über ein Fahrrad verfügen besonders hoch (1. Generation: 29 %; 2. Generation: 19 %; ohne Migrationshintergrund: 14 %). Bei der Fahrradnutzung unterscheiden sich die Generationen jedoch nicht wesentlich, aber der Anteil der Vielfahrer ist jeweils deutlich niedriger im Vergleich zu denjenigen ohne Migrationshintergrund. Die selbst genannten Gründe für eine seltene oder Nicht-Nutzung des Fahrrads variieren zwar etwas zwischen den Gruppen, aber tendenziell haben sie sich an erster Stelle auf die mangelhafte Infrastruktur und die schlechte bzw. zu langsame Erreichung der Ziele bzw. fehlende Praktikabilität bezogen. Gefolgt wurden sie von dem Fehlen eines Fahrrads und dem Diebstahlrisiko sowie der „Faulheit“ bzw. fehlenden Freude am Radfahren und der eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten, sowie der mangelnden Verkehrssicherheit.

Familiäre Sozialisation

Viele Verhaltensweisen sind von Gewohnheiten geprägt, dies trifft auch auf die Verkehrsmittelwahl und -nutzung zu, also auch auf das Fahrrad. Deswegen spielen nicht nur die Ausstattung der Haushalte, die persönlichen Einstellungen zum Fahrradfahren sowie die Infrastruktur, das Relief oder das Wetter die Fahrradnutzung, sondern auch die eigenen Erfahrungen, Werte und Normen sowie die Verhaltensweisen der Menschen im Umfeld eine Rolle. Unabhängig vom Migrationshintergrund sind also die familiären Gewohnheiten und die Mobilitätskultur, die man erlebt ebenso mögliche Einflüsse die unser Verhalten prägen und eine mögliche Veränderung beeinflussen können. Diese spiegeln sich in der Forschung zu Mobilitätsbiographie und -sozialisation wider. Dort zeigt sich einerseits, dass Verhaltensweisen zwar stabil sind und beispielsweise viele Menschen das gewohnte Verkehrsmittel auf den alltäglichen Wegen verwenden, sich aber andererseits solche Gewohnheiten auch verändern lassen (Quellen: hier und hier).

Hinsichtlich des Radfahrens gibt es einige europäische Studien, in denen kulturelle Unterschiede, Rollenbilder oder Sozialisation als Grund angeführt werden, warum Menschen mit (nicht westlichem) Migrationshintergrund bzw. Migranten seltener Fahrrad fahren als diejenigen im Land ohne Migrationshintergrund (Quellen: hier, hier und hier).

Helene Souza_pixelio.de

Da die eigene Familie in Kindheit und Jugend einen besonders prägenden Einfluss hat und die meisten Menschen das Fahrradfahren in der Kindheit lernen, wurde in der Offenbacher ILS-Studie auch die elterliche Fahrradnutzung und die Begleitung durch die Eltern beim Fahrradfahren in der Kindheit gefragt und zu einem Faktor Fahrradsozialisation zusammengefasst. Je nach Herkunftsregion unterscheiden sich sowohl die Anteile der häufigen (täglich-wöchentlich) Fahrradfahrenden, als auch die Angaben zur Fahrradnutzung der Eltern. Dabei wurde vor allem für die Mütter aus Polen und Deutschland zugestimmt, dass diese oft mit dem Fahrrad gefahren wären. Die
Mittelwerte der Väter liegen für diese Länder sogar niedriger, ansonsten sind die Zustimmungswerte bei den Vätern im Schnitt höher als die für die Mütter. Bei Müttern aus südeuropäischen, asiatischen und afrikanischen Ländern waren die Zustimmungswerte am niedrigsten, gefolgt von der Türkei. 
Insgesamt konnte in einer multivariaten Auswertung der Studie gezeigt werden, dass ein höherer Wert bei der Fahrradsozialisation einen positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat , als Erwachsene*r häufig Fahrrad zu fahren. Das Vorhandensein eines Migrationshintergrunds hat zwar tendenziell einen negativen Einfluss, aber dieser ist nur bei der zweiten Generation signifikant (bei Kontrolle weiterer Faktoren ).

Empfehlungen

Für viele Menschen bietet ein Fahrrad im Alltag Flexibilität und eine unabhängige Mobilität. Allerdings müssen dafür sowohl die persönlichen Fähigkeiten und die Ausstattung mit einem funktionsfähigen Fahrrad, als auch eine gewisse Routine und Sicherheit bei der Fahrradnutzung vorhanden sein. Insbesondere für Menschen, die bisher wenig oder gar nicht Fahrrad gefahren sind, sind dies hohe Hürden. Allerdings kann – wie oben bereits erwähnt – die Schwelle herabgesetzt werden, wenn sich auch „Fahrradanfänger“ sicher im Verkehr fühlen können.

In vielen Orten gibt es Fahrradkurse für Menschen, die als Erwachsene Fahrradfahren lernen möchten. Hier werden die körperlichen Fähigkeiten trainiert und Verkehrsregeln gelernt. Vereine und Kommunen bieten auch spezielle Kurse für Menschen mit Migrationshintergrund, einige davon speziell für Frauen. Diese Kurse sind häufig gut besucht. Aus solchen Kursen gibt es Hinweise, dass es ein erster wichtiger Schritt ist, die Fähigkeit zu erlernen, Fahrrad zu fahren. Allerdings braucht es für einen Übergang zum Fahrrad fahren im Alltag zusätzlich sowohl die finanziellen Ressourcen für einen Fahrradkauf, als auch weitere soziale Unterstützung durch Patenschaften, gemeinsame Aktivitäten oder organisierte Ausflüge, um die Fertigkeiten zu festigen und das Selbstvertrauen zu stärken (Quellen: hier, hier und hier).

Letztendlich ist national und lokal eine inklusive und auf die Sicherheit der schwächsten Verkehrsteilnehmenden ausgerichtete Infrastruktur und Verkehrspolitik eine
ebenso wichtige Voraussetzung, dass mehr Menschen gerne Fahrrad fahren.

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