Sicherheitsgefühl beim Überholvorgang

Rezension von Stülpnagel et al. 2022 (1)

Überholvorgänge, bei denen Radfahrende von Autos passiert werden, stellen eine tagtägliche Situation im Straßenverkehr dar. Dabei kommt es insbesondere in städtischen Bereichen, wo viele Verkehrsteilnehmer*innen auf engem Raum agieren, immer wieder zu Unfällen, die im Zusammenhang mit Überholvorgängen stehen. Bei rund 5-6% aller Unfälle zwischen Autos und Radfahrer*innen fahren beide in dieselbe Richtung und von diesen ereignen sich rund dreiviertel während Überholvorgängen (2).

Radfahrende, die oft in unangenehme Verkehrssituationen geraten, verlieren unter Umständen die Bereitschaft, in Alltagssituationen ihr Fahrrad zu benutzen

Selbst wenn es nicht zum Crash kommt, stellen Überholvorgänge bei Radfahrenden oftmals unangenehme Situationen dar, wenn die Überholabstände gering sind bzw. es zu sog. „Beinahe Crashs“ kommt. Radfahrende, die oft in unangenehme Verkehrssituationen geraten, verlieren unter Umständen die Bereitschaft, in Alltagssituationen ihr Fahrrad zu benutzen. Gleichzeitig schätzen Radfahrer*innen die Häufigkeit solcher Situationen oftmals falsch ein.

Verschieden Studien untersuchen den Einfluss unterschiedlicher Straßentypen (Geschwindigkeitsbegrenzungen, Fahrradinfrastruktur) auf Überholabstände zwischen Autos und Fahrrädern. Deutlich weniger Studien untersuchen die Wahrnehmung von Radfahrer*innen bezüglich Überholabständen auf unterschiedlichen Straßentypen. Noch weniger weiß man inwiefern Radfahrer*innen ihre Sicherheit bei Überholvorgängen einschätzen und ob diese Einschätzungen auch zutreffend sind. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass Radler*innen nah überholende Autos als unangenehm empfinden, aber können sie auch abschätzen, auf welchen Straßentypen dies häufiger stattfindet?

Gemessener vs. erwarteter Überholabstand

Hier setzt die Studie von Stülpnagel et al. an.  Studienteilnehmenden wurden Bilder von bestimmten Verkehrsbereichen in Freiburg im Breisgau gezeigt. Die Teilnehmer*innen sollten sich vorstellen, sie wären mit dem Rad auf den gezeigten Strecken unterwegs und sollten einschätzen, wie der Überholabstand von vorbeifahrenden Autos wäre. Mittels eines am Fahrrad montierten Sensors wurden die tatsächlichen Überholabstände in besagten Verkehrszonen gemessen. 

Aber nochmal einen Schritt zurück. Welche Faktoren beeinflussen die Abstände zwischen Radler*innen und überholenden Autos?

  • Fahrradinfrastruktur: Keine Radinfrastruktur, Radspuren auf der Straße oder baulich getrennte Radwege können einen Einfluss auf Überholabstände haben.
  • Geschwindigkeitsbegrenzungen: ganz allgemein sind die Überholabstände bei höheren Geschwindigkeiten größer.
  • Individuelle Faktoren (Geschlecht, Bekleidung, Radtyp), geparkte Autos und Straßenbreite: hier sind die Einflüsse nicht eindeutig.

In lediglich 30 % aller Überholvergänge halten Autos den gesetzlichen Mindestabstand ein

Aus den sensorgestützten Messungen geht hervor, dass lediglich 30% aller Überholvorgänge den gesetzlichen Abstand von 1,5m überhaupt einhalten. In 30er Zonen verringert sich der Überholabstand, wenn Radinfrastruktur vorhanden ist bzw. ist höher, wenn diese fehlt. Im Kontrast dazu schätzen die Studienteilnehmer*innen die Sicherheit höher ein, wenn Radinfrastruktur vorhanden ist. Dieser Effekt – höheres Sicherheitsempfinden trotz geringerer gemessener Überholdistanz – tritt noch stärker in Spielstraßen auf. Situationen, in denen entgegenkommende Autos passiert werden, werden nicht als besonders gefährlich wahrgenommen. Baulich getrennte Radwege in 50er Zonen erhöhen sowohl die gemessenen Überholabstände als auch die erwartete Sicherheit beim Überholvorgang. 

Die Annahme von Radfahrer*innen, dass sie in verkehrsberuhigten Straßen mit Fahrradinfrastruktur in größeren Abständen überholt würden, lässt sich auf Basis der gemessenen Überholabstände somit nicht bestätigen. Mögliche Erklärungen für diese widersprüchlichen Muster könnten sein, dass Radfahrer*innen Situationen bevorzugen, in denen Radverkehr explizit vorgesehen ist. Darüber hinaus kalkulieren sie das erwartete Verkehrsaufkommen ein und nehmen entgegenkommenden Verkehr als weniger gefährlich wahr.

Höheres Sicherheitsempfinden trotz geringerer gemessener Überholdistanz?

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Vorhandensein eines für Radfahrer reservierten Raums (d. h. die Radspur) die Bereitschaft der Autofahrer*innen, angemessene Überholabstände einzuhalten, tendenziell verringert. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass Straßen mit Fahrradspur auch eher die Straßen mit höherem Verkehrsaufkommen sind. Ein höheres Verkehrsaufkommen macht es wahrscheinlicher, dass der Gegenverkehr den möglichen Überholabstand bei einem Überholmanöver einschränkt. Gleichwohl ist das subjektive Sicherheitsempfinden von Radfahrer*innen bei vorhandener Radinfrastruktur höher. Diese Diskrepanz legt nahe, dass der tatsächliche Überholabstand nur einer von mehreren Faktoren ist, die die subjektive Sicherheit der Radfahrer*innen bestimmen.

Radwege erhöhen die ojektive Sicherheit der Radfahrenden

Die Ergebnisse weisen auf die folgenden praktischen Implikationen hin, wenngleich weitere Forschung und empirische Überprüfung notwendig ist:

  • Ein wichtiger Eckpfeiler im Bestreben, Radfahren in Städten zu ermutigen ist es, auf die Sicherheitsbedenken der Menschen einzugehen, die immer wieder als ein Faktor genannt werden, der sie vom Radfahren abhält.
  • Spezieller Infrastruktur für Radfahrer (z.B. Radwege) können die subjektive Sicherheit deutlich verbessern.
  • Geschwindigkeitsbegrenzungen erhöhen das subjektive Sicherheitsempfinden, auch wenn sich dadurch die tatsächlichen Überholabständen nicht erhöhen.
  • Die Einhaltung des gesetzlichen Überholabstandes ist selbst bei vorhandener Radinfrastruktur oftmals kaum möglich.
  • Angesichts der Tatsache, dass Radwege nachweislich sowohl die objektive als auch die subjektive Sicherheit von Radfahrer*innen erhöhen, scheint die die Einhaltung des gesetzlichen Mindestüberholabstandes insbesondere bei fehlender Radinfrastruktur geboten zu sein.

Quellen

(1) Stülpnagel, R; Hologa, R; Riach, N (2022): Cars overtaking cyclists on different urban road types – Expectations about passing safety are not aligned with observed passing distances https://doi.org/10.1016/j.trf.2022.07.005

(2) Díaz Fern´andez, P., Isaksson-Hellman, I., Jeppsson, H., Kovaceva, J., & Lindman, M. (2021). Description of same-direction car-to-cyclist crash scenarios using real-world data from Sweden, Germany, and a global crash database (A. Laureshyn, A. Niska, C. D’Agostino, K. Kirchner, T. Koglin, & S. Forward, Hrsg.).

Transparenzhinweis: Nils Riach ist Co-Autor der Studie